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Beiträge unserer „Zugvögel“

Winterschool Indien 2017

Die Teilnahme an der Winterschool 2017 in Indien kam für mich absolut spontan und überraschend. Prof. Späte (bester Prof. der wo gibt auf Welt (kleiner Insider von einem der vielen gemeinschaftlichen Abende in Indien :D )) hatte uns zwar im dritten Semester darüber aufgeklärt, allerdings war das nach über 1,5 Jahren total in Vergessenheit geraten. Glücklicherweise begegnete ich einigen strahlenden Gesichtern aus meinem Studiengang, welche gerade die Zusage für die Teilnahme erhalten hatten. Gute Gelegenheit, dachte ich, kannte ich doch dieses ferne Land bisher lediglich aus dem Unterricht oder YouTube. Noch am selben Tag verfasste ich meine Bewerbung und ergatterte so den letzten freien Platz!

Als ich in Kochi gegen 0:30 Uhr landete, wartete ich erstmal über drei Stunden alleine auf meine mit einer anderen Airline fliegenden Kommilitonen. Schon alleine die Fahrt zu unserer Unterkunft war ein Erlebnis der Superlative! Keine 5 Meter nach dem Flughafengelände startete unser Fahrer das Hupkonzert, welches meine Ohren bis zur Abreise aus Indien nicht mehr verlassen sollte. Verwundert waren wir auch über die anderen Verkehrsteilnehmer, welche in Form von Gegenverkehr auf unserer Spur unterwegs waren oder, in gleicher Richtung fahrend, ständig zwischen den Spuren hin und her wechselten. Auf die Frage an unseren Fahrer, warum denn der vor uns Fahrende ständig die Spur wechselte, bekamen wir die Antwort mit einem Lachen im Gesicht „ 4 o’clock – sleeping time“ und in der Tat konnte ich beim Überholen geschlossene Augen und ein ständiges Absacken des Kopfes sehen.

In der Unterkunft angekommen dann der nächste Schock, aber zum besseren Verständnis eine kleine Vorabinformation: Wir mussten für diese Woche bekanntermaßen 450€ für Unterkunft und Verpflegung bezahlen, wofür man in Kochi ein 5-Sterne Hotel mit all inclusive etc. bekommt. Natürlich wussten wir, dass wir eine derartige Unterkunft nicht bekommen und das erwartete auch keiner, aber mit etwas Derartigem hat niemand gerechnet!


Das Kämmerchen war etwa 14 m² groß, hatte einen Ventilator, ein Bett mit etwas schaumstoffschaumstoffartigem was die Matratze darstellen sollte, eine Dusche ohne warmes Wasser (welche beim Duschen grundsätzlich auch die Toilette Modell Oma-WC DDR vollständig abbrauste) und ein kleines Waschbecken. Steckdosen suchte man vergeblich genauso wie Fenster, die einen nachts vor den Lauten des Dschungels sowie sehr früh morgens vor dem „Allah Akbar“ des Muezzins schützten. Doch nicht nur der Zugang zu Elektrizität war Mangelware, auch der Mobilfunkempfang mit maximal 10% Netzabdeckung erwies sich als äußerst dürftig und WiFi suchte man sowieso vergebens.


Als Dr. Peter außer Hörreichweite war, trafen wir uns erst einmal am Hofgang und ärgerten uns, wie sehr wir vom Zentrum abgezockt wurden.


Auch das Essen konnte weder uns noch unsere Studienkollegen aus Indien recht begeistern. Es gab täglich totgekochten Reis, (zumindest für mich) ultrascharfe vegetarische Beilagen und auch das Rührei bestand mehr aus Pfeffer als aus Ei (Foto anbei) . Auf besonderen Wunsch wurde an einem Tag Hühnchen serviert, was nach 5 Tagen ohne Fleisch sehnsüchtig von den meisten von uns erwartet wurde. Die Begeisterung legte sich allerdings schnell, nachdem das arme Tierchen samt Knochen zerhackt in einer gelb-grünen Gewürzpaste auf unserem Teller landete. Man möge sich jetzt acht deutsche Studenten vorstellen, welche das Fleisch von den Knochenresten sezierten und anschließend sehr vorsichtig kauten, um die vielen kleinen Knochenfragmente ja nicht zu verspeisen. Rückblickend muss ich bei der Erinnerung daran immer noch lachen :-)

Wer bis hierher gelesen hat, denkt sich bestimmt: „Oh weh, das muss ja eine Horrorwoche fernab jeglicher Zivilisation gewesen sein!“. Aber der geduldigen Leser kann an dieser Stelle beruhigt werden. Nachdem der erste Schock sich gelegt hatte, überwogen die positiven Eindrücke bei Weitem. (Eine etwas bessere Informationspolitik über das zu Erwartende seitens der Hochschule hätte dieses böse Erwachen im Übrigen wesentlich abmildern können).


Nichtsdestotrotz mussten wir aufgrund der Eigenheiten der Unterkunft des Öfteren lachen. Ein Beispiel: Nach zwei Tagen wechselte ich die Position meiner Rucksäcke und konnte eine kleine Ameisenkolonie darunter feststellen. Diese kleinen Krabbeltierchen wanderten überall auf dem Anwesen umher und so warnte ich meine Kommilitonen vor den Eigenschaften dieser Geschöpfe. Niko hatte offenbar Mitleid mit diesen und hinterließ eine fast leere Chipstüte auf seinem Bett, ehe er zu der mittlerweile üblichen Abendveranstaltung unserer Gruppe ging. Die Freude über die neuen Bettgenossen war sichtlich groß und die sich gebildete Ameisenstraße quer durch sein Bett führten zu allgemeiner Erheiterung. Wie sagt man so schön: „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen“ :-).

Doch nun weiter in chronologischer Reihenfolge. Da am Sonntag noch kein offizielles Programm stattgefunden hat, die Muezzins sich gegen 05:00 Uhr wie jeden Tag versuchten gegenseitig zu übertönen und wir somit ohnehin früh auf waren, nutzten wir diesen freien Tag um Indien bei Tag zu erleben, sowie Geld und Trinkwasser zu besorgen. Auf den engen Straßen kamen uns immer wieder hupende Fahrzeuge entgegen, welche die Hierarchie in Indiens Verkehrswesen eindrucksvoll vermittelten. Priorität hatten ganz klar LKWs und Busse, welche nur im Notfall bremsten und denen man auch aufgrund der offensichtlich höchsten Geschwindigkeit aller Fahrzeuge besser Platz machte. Danach kamen geordnet nach Fabrikat, Größe und Leistung die diversen PKW-Arten, danach Tuk-Tuks und Motorräder, Fahrräder und andere fahrzeugähnliche Konstrukte. Fußgänger habe ich in dieser Liste bewusst außen vor gelassen. Diese eher geduldete Randgruppe muss sich entlang der Straße hindurchschleichen und immer ein Auge auf einspurige Fahrzeuge haben, welche sich gerne seitlich an Staus vorbeidrängen. 


Geld abzuheben war eher wie eine Art Lotterie – manchmal wurde die EC- oder Kreditkarte akzeptiert, manchmal endete der Versuch trotz korrekter PIN-Eingabe in einer Kartensperrung.

Aufgrund der ungleich verteilten Liquidität setzte die in Indien sehr verbreitete Hilfsbereitschaft auch bei uns Deutschen ein. Beim Wasserkauf stoppte völlig überraschend ein junges Ehepaar und fragte uns, ob sie uns denn helfen könnten. Verdutzt fragten wir nach dem üblichen Preis für ein Sixpack Wasser, erwarteten wir doch eher von dem Besitzer des Tante-Emma-Ladens aufgrund unserer Hautfarbe abgezockt zu werden. Wie wir jedoch später erfuhren, ist der maximale Preis auf den jeweiligen Artikeln abgedruckt, womit überzogenen Preisen zuvorgekommen wird. Diese Hilfsbereitschaft entgegnete mir unbewusst auch bereits auf dem Hinflug nach Kochi, als mein Sitznachbar mich fragte, wo es denn hinginge und wie oft ich schon in Indien war. In Kochi gelandet zückte er seine Visitenkarte und sagte „If you have a problem or a general query, just call me!“ In Deutschland würde wohl keiner auf die Idee kommen, einem Wildfremden ein derartiges Angebot zu machen.

Schließlich trafen wir, zu unserer Überraschung stets pünktlich, am nächsten Morgen zum ersten Mal auf die Indischen Teilnehmer der Summer School. Wohingegen die Frauenquote unserer Delegation bei 1:7 stand, war dies bei den Indern mit 6:2 trotz rein technischer Studiengänge das exakte Gegenteil. Gemeinsam hatten sie, dass keiner vorher eine Lehre etc. gemacht hatte und direkt nach der High School mit dem festen Ziel M.Eng. auf die Universität wechselte. 
Bildeten sich in den Pausen zu Beginn noch eher Indische bzw. Deutsche Gruppen, wurde dieses auf Initiative der Deutschen Teilnehmer schnell durchbrochen. Insgesamt hatten wir, obwohl wir ja eigentlich die Gäste darstellten, etwa 90% der Redezeit inne und auch sämtliche Vorschläge bzw. Lösungsansätze waren eher unserer Seite zuzuordnen. Dies zeigte uns die Vorteile, die unser Ausbildungssystem hat, und was uns Deutsche im internationalen Wettbewerb so auszeichnet. Stehen wir vor einem Problem, wird auf vergangene Erfahrungswerte zurückgegriffen, werden verschiedene Lösungsansätze formuliert und die Sache vom Groben zum Feinen angegangen. Die Inder, zweifelsohne ebenfalls über viel Fachwissen verfügend, warten ab, bis sie konkrete Problemstellungen geliefert bekommen, deren Ziele eindeutig definiert sind und kein abstraktes Denken erfordern. Ist eine Aufgabe nur generell formuliert, wird zurückhaltend abgewartet, bis sich eine andere Instanz der Sache annimmt. Nachdem wir diese Eigenheiten erkannt hatten, ergänzten wir unsere Arbeitsweisen und staunten ab und an nicht schlecht, was uns von indischer Seite alles präsentiert wurde!

Einen weiteren gravierenden Unterschied im indischen Lehrwesen stellte die Unterrichtsgestaltung dar, welche ich ebenso wie das Erscheinungsbild der Lehrräumlichkeiten in das Deutschland der fünfziger Jahre einordnen würde. Indische Professoren halten eher eine Art Frontalunterricht, bei dem sie ihre Fragen, begleitet vom Gemurmel einiger Inder, nach ein- bis zweisekündigen Redepausen selbst beantworten. Ihnen wird aufgrund der hierarchischen Position nie von Studenten widersprochen und auch kritisches Hinterfragen findet nicht statt. Wird dennoch eine Frage gestellt, wird diese mit der einfachen Antwort des Dozenten abgeschlossen, selbst wenn noch kein Verständnis eingetreten ist. Kurzum das exakte Gegenteil zum Usus an unserer OTH und mit welchem wir Deutschen diese fünf vollen Tage gnadenlos bespaßten :-)


Ich meine hierbei auch den einen oder anderen genervten Gesichtsausdruck der indischen Professoren entdeckt zu haben ^^

Am Freitag präsentierten wir schließlich an der Universität unserer indischen Kommilitonen, dem RSET, unsere erarbeiteten Projektarbeiten. Als wir, mit Ausnahme der indischen Professoren, als einzige ohne Uniform den Raum betraten, erwies man uns durch Aufstehen seinen Respekt. Eine Szenerie, die mich eher an meine Zeit bei der Bundeswehr erinnerte statt an unsere Hochschule. Insgesamt haben uns meiner Meinung nach die Inder, was gegenseitigen Respekt vor dem Alter und der Erfahrung unserer Mitmenschen sowie Umgangsformen im Allgemeinen angeht, einiges voraus (bzw. wenn ich an die Schulzeit meines Opas denke, haben sie sich einiges davon bewahrt). 
Das Plenum staunte nicht schlecht als dieses erfuhr, mit welcher Art Wasser wir üblicherweise unsere Toiletten spülten. Auch der europäische Energieverbrauch verursachte entsetzte Blicke, wohin gehend die durchschnittliche Netzausfallzeit von 15 Minuten pro Jahr für Staunen sorgte. Am Rande erwähnt sei hierbei, dass in Indien mehrere Blackouts pro Tag die Regel sind und niemanden wirklich aus der Fassung bringen. Um diesem Problem entgegenzuwirken, stehen vor fast jedem Geschäft Notstromaggregate, welche zusammen mit dem Verkehrslärm ein eindrucksvolles Symposion der Klänge erzeugen.

Ihren krönenden Abschluss fand die leider viel zu schnell vergangene Woche in einer Besichtigung der Sehenswürdigkeiten von Kochi sowie einem vom RSET gesponserten Abendessen in einem Rooftop-Club. Auch die Besuche in den zahlreichen Wats sorgte für wachsendes Kulturverständnis sowie, bedingt durch das eine oder andere Missverständnis, für lustige Momente. Verlässt man beispielsweise eine derartige religiöse Anlage, so wird einem eine Art gefärbte Asche zur Stirnbemalung gereicht. Was übrig bleibt, so gestikulierte der Guru indem er seine Hände über den Kopf hinweg nach hinten bewegte, wird weggekippt. Ich interpretierte allerdings daraus, ich solle mir den Rest über den Kopf kippen. Da ich deren Kultur natürlich nicht beleidigen wollte, folgte ich dem vermeintlichen Ritual und hatte nun weiße Haare, drei Streifen auf der Stirn und viele lachende Inder um mich herum. 
Getoppt wurde dies am nächsten Tag von einer von unseren indischen Kommilitonen gemanagten Bootsfahrt durch die Backwaters Keralas sowie einem ebenfalls auf dem Boot servierten Mittagessen. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie einen derart guten Fisch gegessen und auch die übrigen Gerichte überzeugten mich von der indischen Küche. Ein Unterschied zu unserer Unterkunft wie Tag und Nacht und dies für einen vergleichbar äußerst schmalen Taler!


An der Summer School teilgenommen zu haben bereitete mir sehr viele schöne Erlebnisse und beim Schreiben dieses Berichtes werde ich gar ein bisschen wehmütig. Einmal mehr wurde mir bewusst, wie glücklich wir uns mit unserem Lehrsystem schätzen können und auch die fehlende bzw. eingeschränkte Konnektivität zu Stromnetz und Internet äußerte sich in etwas, das bei uns zunehmend zu kurz kommt: Gemeinsame Abende und das zwischenmenschliche Gespräch von Angesicht zu Angesicht.



Ich freue mich schon jetzt wahnsinnig, unsere neuen indischen Freunde im Februar wiederzusehen und verabschiede mich mit einigen ausgewählten Bildern.

Tobias Roidl


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